Ich lasse mich auf die Bank fallen und strecke meine Füße von mir. Die Sonne scheint durch das Blätterdach über mir und wirft abstrakte Schattenspiele auf den Boden. Ich schaue mich um.
Der kleine Park ist eine Ruheoase, umgeben von zwei breiten Straßen. Viele Menschen sind hier nicht. Ich sehe ein paar Touristen mit Rucksäcken und angestrengtem Blick aufs Handy – die suchen bestimmt ihr Hostel. Ich sehe ein paar ältere Einheimische, die mitten auf dem Rasen Übungen machen, Thai Chi vielleicht?
Ich gucke auf meine Füße, die in meinen blauen Turnschuhen stecken, die staubig sind von den Abenteuern der letzten drei Wochen. Es ist der letzte Tag. In nur wenigen Stunden werde ich meinen Rucksack zum letzten Mal schultern, in ein Taxi steigen, dem Fahrer ein letztes Mal mit Händen und Füßen erklären, dass ich zum Flughafen will – muss.
Ich schließe meine Augen. Wie konnten 3 Wochen so schnell vorbei gehen?
Und was habe ich nicht alles erlebt?
Die kühlen Temperaturen Hanois und die ersten orientierungslosen Tage im völlig fremden Vietnam. Es gab keine Bürgersteige, keine Ampeln, nur überfüllte Straßen und hupende Roller.
Dann die Stille der Halong Bucht – der krasse Gegensatz. Das türkise Wasser und die merkwürdige Felsenlandschaft um mich herum, ein völlig neues Bild. Das Kanufahren, was erst so gar nicht und dann so großartig geklappt hat.
Dann die Nachtfahrt mit dem Zug. Meine vietnamesischen Abteilmitbewohner verzogen sich direkt in ihre oberen Betten und schnarchten schon bald, während ich noch lange wach lag, mich dem Schaukeln des Zuges überließ und über dieses fremde Land nachdachte. Der nächste Morgen, als meine Mitbwohner darauf bestanden, dass ich den Tee von ihnen annahm. „Nie offenes Leitungswasser trinken“ war in meinem Hirn fest verankert – aber nein sagen konnte ich auch nicht.
Die grüne Weite des Phong Nha Ke Bang Nationalpark, der durch seine Höhlen verzaubert und durch die Gastfreundschaft der Bewohner überzeugt. Selten habe ich so gut gegessen wie im „Pub with cold beer“ und selten war ich schon so früh im Bett wie nach Höhlenwanderung, Ziplining, Matschrutschen im Dunkeln und mit Rum-Tee wieder aufwärmen.
Dann die Kaiserstadt Hue, die nach den ruhigen Tagen im Nationalpark eine willkommene Abwechslung war. Die Stadt ist toll und es gibt so viel zu sehen, aber die Belegschaft des Four Seasons Hue (nein, nicht das Luxushotel), die mich als Teil der Familie aufnahm und die in wenigen Tagen und mit der Sprachbarriere trotzdem zu Freunden wurden, haben diesen Ort zu einem Zuhause auf Reisen gemacht – Umarmungen zum Abschied inklusive.
Die erste Fahrt mit dem Sleeper-Bus, obwohl am Tag. Die Stunden nach Hoi An flogen nur so dahin und plötzlich war ich in der Stadt der Lampions und Schneider angekommen. Ich konnte nicht genug bekommen von den bunten Häusern und Chicken Rice Hoi An. Zur Entspannung radelte ich an den Hidden Beach und genoß zum ersten Mal das Meer.
Der kurze Zwischenstopp für eine Nacht in Nha Trang, der mir zeigte, dass nicht alle nach Vietnam reisen, um dieses Land kennen zu lernen, sondern auch einfach nur, um am Strand bei lauter Musik und Cocktails die Zeit tot zu schlagen.
Und dann Mui Ne, das Kite-Surfer-Paradies. Ich traute mich nicht auf ein Brett, aber in die Wellen zu springen und das warme Wasser zu spüren, während um mich herum die Segel in der Luft waren, war einmalig. Eine erste Massage im Spa, direkt am Meer, das Rauschen der Wellen im Ohr. Neujahr brach an, nicht meins, aber das vietnamesische. Ich blieb wach und ging um Mitternacht an den Strand, aber in Mui Ne feierte niemand. In weiter Ferne sah ich ein Feuerwerk, aber bei mir war es still. Trotzdem Happy New Year!
Zum Schluss Ho Chi Minh City. Mit den vielen Häusern, den vielen Menschen, den vielen Autos und Rollern. Den modernen Geschäften und den westlichen Fast-Food-Ketten. Mit den Dachterrassen und Souvenirshops. Noch eine kurze Flucht zu den Cu Chi Tunneln, umgeben von Wald und Hitze. Bei den engen Gängen kam sogar ich mir groß vor.
Und jetzt sitze ich hier, schaue auf den Staub auf meinen Schuhen, die das alles auch erlebt haben und soll bald ins Flugzeug steigen. Das bringt mich nach Hause.
Nach Hause? Wie kann es mich nach Hause bringen, wenn ich doch schon da bin? Wie kann es sein, dass ich in einem Land, dessen Sprache ich nicht spreche, dessen Buchstaben ich nicht lesen kann, nach dieser kurzen Zeit zu Hause bin?
Es liegt an der Landschaft, die von Bergen zu Nationalpark, von Felsen im Meer und Sandstränden, von vollen Straßen in großen Städten und Schotterwegen auf dem Land so einzigartig ist.
Und es liegt an den Menschen, die hier offensichtlich so viel weniger haben als wir in Deutschland, die mit ihrer gesamten Familie auf engstem Raum leben und oft nur Reis mit Gemüse essen. Aber die hier ständig lachen, die sich besuchen, raus gehen, ihre Wohnungen offen lassen und uns zeigen: Sieh her! Es dreht sich im Leben nicht alles um den vollen Kleiderschrank, das neueste Auto, die Clubs und Bars am Wochenende mit ihren überteuerten Cocktails. Es geht um uns, um dich und mich, um das Miteinander, auch wenn hier längst nicht alles gut läuft.
Es liegt am Lebensgefühl der letzten drei Wochen. An den verschobenen Prioritäten. An den Einblicken, was eigentlich wirklich zählt und was nicht.
Ich hole tief Luft und stehe langsam auf. Ich fliege nach Hause. Das stimmt. Aber ein Stück von mir bliebt hier und ist zu Hause. Und ein Stück von Vietnam nehme ich mit, trage es weiter, zeige es meinen Freunden zu Hause und sage: Sieh her! Ich habe mich verändert. Und Vietnam ist Schuld daran.
Hat dich ein Land auch so verändert, wie Vietnam mich? Erzähl uns davon in den Kommentaren.
Ich finde es immer wieder spannend, wie andere meine Heimat wahrnehmen. 🙂 Es freut mich sehr, dass du dich dort so wohl gefühlt hast. 🙂
LG,
Tani
Hi Tani,
ja, Wohlfühlen ist schon fast gar kein Ausdruck. Ich will auch unbedingt wieder hin 🙂
LG
Magdalena
Wow, so schön geschrieben!
Ich liebe deinen Schreibstil, der alles so darstellt, als wäre ich dabei gewesen.
Wirklich schön. Ich kann mir vorstellen, dass einen ein Land so schnell verändern kann.
Ich bin mir sicher, dass mich Singapur auch verändert hat. Einige Sachen sehe ich viel entspannter, manchmal werde ich in dieser Großmetropole tatsächlich auch entschleunigt. Man glaubt es kaum!
Viele Grüße aus Südostasien <3
Michelle
http://gowhereyourhearttellsyoutogo.wordpress.com
Vielen Dank für das tolle Kompliment zu meinem Schreibstil. Ich versuche auf dem Blog neben vielen Tipps und Tricks und Ratschlägen auch gerne mal das Gefühl zu Wort kommen zu lassen. Denn ich will in einem fremden Land nicht nur die top Sehenswürdigkeiten abklappern und von einem Highlight zum nächsten hetzen. Sondern eben auch Gefühl, Veränderung zulassen.
Gerade Entschleunigung finde ich total wichtig und stimme dir voll zu: Manchmal passiert das an Orten, von denen du es nicht erwartet hättest.
Viele liebe Grüße aus dem kalten Deutschland 😉