Die Rettungsweste klebt unangenehm an mir. Sie fühlt sich zu eng an, dann wieder zu locker und überhaupt sitzt sie nicht richtig, oder?
Zum gefühlt tausendsten mal überprüfe ich sämtliche Verschlüsse, ziehe alle Bänder fest, mache sie im nächsten Moment wieder lockerer.
Mein Blick geht nach oben und folgt dem Turm in eine Höhe, die ich weder abschätzen kann noch will.
Ich stehe am Rand der Wendeltreppe, die sich um den Turm schlingt, um auf halber Höhe im Inneren noch viele weitere Stufen nach oben zu führen. Meine Handflächen sind feucht.
Hinter mir höre ich das aufgeregte Geplapper der Gruppe, der ich mich heute angeschlossen habe. Eigentlich sehen wir lustig aus in den orangenen Rettungswesten über den Schwimmsachen, barfuß auf dem ziemlich kalten Boden, denn im Februar ist das Wetter im Phong Nha Ke Bang Nationalpark nicht besonders warm.
„Okay, let’s go“, ruft unser Guide Peter und ist schon halb die Treppe rauf. Meine Beine fühlen sich wie Blei an, als ich ihm langsam folge. Doch keiner aus meiner Gruppe überholt mich. Warum?
Ich steige Stufe um Stufe nach oben, in meinem Kopf herrscht ein einziges Chaos.
Warum tue ich mir sowas schon wieder an? Hatte ich bisher nicht genug Abenteuer? Warum habe ich bloß die Tagestour und nicht nur einen einfachen Ausflug gebucht?
Es geht immer weiter nach oben und plötzlich ist sie da: Die letzte Stufe. Ich bleibe stehen, halte die Luft an. Was soll diese Trittleiter vor mir und warum ist Peter schon dort oben? Die Stimmen hinter mir sind gar nicht mehr so laut wie vorher, auch den anderen wird bewusst, was uns bevorsteht.
Unser Guide lächelt und steigt aus der balkonartigen Öffnung nach draußen. Nur den Balkon mit dem sicheren Geländer kann ich aus meiner Perspektive nicht erkennen.
„Okay, let’s start. Your turn“, ruft er und zeigt auf mich. Auf mich? Ich soll da hoch, da raus? Nie im Leben, denke ich, während ich auf die kleine Leiter zugehe, meine kalten Hände das Metall fassen und ich doch nach oben steige. Peter reicht mir seine Hand und schon stehe ich auf einem Vorbau, der mich stark an den Sprungturm aus dem Schwimmbad erinnert.
Erschreckende Erinnerungen erscheinen vor meinem geistigen Auge: Ich, im frühen Teenager-Alter, am Rande des 3-Meter-Turms im Sportunterricht. Unter mir das Becken, leer, denn fast alle sind schon in den Umkleide-Kabinen. Nur ich stehe ausweglos hier oben. Springen scheint ausgeschlossen, die viel zu dünne Leiter wieder nach unten steigen, auch.
Ich soll springen, ruft meine Lehrerin. Sonst könne sie mir kein Schwimmabzeichen geben. Pah! Ich will das auch gar nicht! Aber herunter komme ich dadurch leider auch nicht.
Während ich mich mit Grauen an den Sprung und das fürchterliche Gefühl im Magen erinnere, hantiert der Guide mit Seilen und Karabinern an mir herum.
Ich versuche mich abzulenken und schaue auf die Landschaft vor mir. Sattes Grün, soweit das Auge reicht. Der Fluß schlängelt sich durch das Tal und schimmert selbst in einem wahnsinnigen dunkelgrün. Der Himmel ist bewölkt, aber einzelne Sonnenstrahlen erkämpfen sich ihren Weg und treffen auf diese wahnsinnige schöne Landschaft. Es wirkt fast surreal.
Ein letztes Zurren an mir, meiner Rettungsweste, den Seilen und Karabinern. Ich scheine startklar zu sein.
Meine Stimme ist schwach, als ich „Is it really safe?“ frage. Hinter mit ertönt nervöses Lachen.
Lacht ihr nur, ihr steht ja noch nicht hier am Abgrund!
Ich wage einen Blick nach unten und mir wird schwindelig. Das ist verdammt hoch. Noch viel schlimmer als die Erfahrung im Schwimmbad. Ich greife mit beiden Händen nach dem Seil, an dem ich hänge und schüttele den Kopf, versuche das ungute Gefühl zu vertreiben.
„Are you ready?“ fragt Peter. Nein! Aber das macht jetzt auch keinen Unterschied. Ich nicke und bekomme meine letzen Anweisungen.
Hinsetzen. Was? Ja, richtig verstanden. Ich sinke langsam nach unten, aber den Boden erreiche ich gar nicht. Das Seil greift und ich schwebe.
Nach vorne zum Ende des Vorsprungs gehen. Okay, in sitzender Position arbeite ich mich vor.
„Have fun“, ruft Peter noch, während er mir einen kräftigen Schups gibt und ich die sichere Plattform mehr oder weniger freiwillig verlasse.
Ich schwebe.
Ich höre den Wind an meinem Kopf vorbei rauschen, meine Beine baumeln in der Luft, meine Hände sind immer noch um das Seil gekrallt.
Ich schwebe.
Das Gefühl im Magen ist nicht so furchtbar wie erwartet, kein Vergleich zum Schwimmbad, nur ziemlich aufgeregt.
Ich schwebe.
Und eigentlich fühlt es sich ganz gut an. Langsam öffne ich die Augen, sehe die grünen Wälder an mir vorbei ziehen, den Fluß unter mir, auch gar nicht besonders weit weg. Eine Hand löst sich, ich strecke sie aus, sie schwebt mit.
Unglaublich. Ich habe es gewagt!
Viel zu schnell erreiche ich das andere Ufer, strecke meine Beine aus und lande. Nicht grazil, aber am sicheren Boden. Ein zweiter Guide empfängt mich, löst die Karabiner und befreit mich.
Mit noch wackeligen Beinen trete ich zur Seite, mache für den nächsten Platz. Wie lange war ich in der Luft? 30 Sekunden maximal.
Wow. Das war genial. Ich muss lachen. Wann mache ich das wieder?
Warum erzähle ich dir diese Geschichte?
Sicher nicht, um dich zum Ziplining zu überreden. Ich muss gestehen: Nach der Landung fand ich es ziemlich genial und war voll mit Adrenalin. Aber schon kurze Zeit später, als wir nach unserer Höhlentour (die es auch in sich hatte!) die Möglichkeit hatten, uns an eine kleinere Line zu hängen und ins Wasser fallen zu lassen, habe ich gepasst. Da war der Mut schon wieder vorbei.
Und trotzdem: Es hilft, die eigenen Grenzen bewusst zu überschreiten, Neues auszuprobieren und sich mit der Aufregung, vielleicht sogar Angst auseinander zu setzen. Es hilft, alte Erfahrungen gegen neue zu tauschen und sie neu zu bewerten.
Ich werde auch jetzt nicht vom 3-Meter-Turm springen und ob ich wieder Ziplining machen werde, ist offen. Aber das schreckliche Gefühl aus der Schulzeit ist weg, ersetzt durch das Schweben über einen Fluss in einem Nationalpark in Vietnam.
Höhe ist und bleibt aufregend, aber nicht mehr ganz so schlimm wie früher. Ich lerne Tag für Tag, besser mit ihr umzugehen, sie zu akzeptieren und auch, wann meine Grenze wirklich erreicht ist und ich den sicheren Boden nicht verlassen soll.
Diese Erfahrungen mache nicht nur ich. Auch Sabina von Whale of a time begibt sich bewusst in Situationen, die ihr ein ungutes Gefühl machen. Jedes Mal lernt sie dazu und bewertet neu, was geht und was sie in Zukunft lieber lassen sollte.
Von ihr kam der Aufruf zu einer Blogparade mit dem Thema „Angst auf Reisen“, an der ich mit diesem Beitrag nur zu gerne teilnehme. Schau also bei ihr vorbei und lerne noch viele andere spannende Geschichten kennen.
Wovor hast du manchmal auf Reisen oder auch im Alltag Angst? Verrate es mir in den Kommentaren.